Presseresonanz zur Ausstellung in Regensburg

Beginnen wir mit der Schrift

als einem graphischen Phänomen, das sprachliche Bedeutungen trägt. Durch Iteration, Kombination und Variation einzelner Schrift-Züge wird ein ästhetisches Universum erzeugt: Struktur, die Illusionen schafft. Die Schrift und Text geben Impulse, Schubkraft, Treibstoff. Aber im Schöpfungsvorgang werden sie verbraucht; der Sinn dessen, was geschrieben ist, löscht sich. „Was bleibt, ist Rhythmus und Raum“. 

Prof. Dr. Christoph Boyer

Universität Salzburg, 
Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte 

Vernissage Manfred Bock

 Buch-Oase Kassel, 14. Februar 2013

 

 

 

 

 

 

 

 

„Manfred Bock hat“ – bei dieser Formulierung will ich noch einmal ansetzen – „die Schrift losgelöst von ihrer Aufgabe, der Sprache zu dienen. Nun zeigt sie uns auf anderem Wege, was sie kann und was sie ist: Sie ist Struktur und sie schafft Illusionen.“ Ich möchte  Ihnen, ausgehend von diesem Satz, heute Abend drei knapp gefasste Überlegungen vortragen. Zum einen: Wie geht es zu, dass sich die Schrift aus dem Dienst der Sprache löst und neuen Aufgaben zugeführt wird? Zum zweiten wollte ich mir die Strukturen, die hier neu entstehen, etwas genauer ansehen. Und zum dritten möchte ich gerne noch einen Blick auf die Illusionen werfen, die von diesen Strukturen erzeugt werden. 

 

1. Beginnen wir mit der Schrift als einem graphischen Phänomen, das sprachliche Bedeutungen trägt. Durch Iteration, Kombination und Variation einzelner SchriftZüge erzeugt Manfred Bock ein ästhetisches Universum: Eben die Struktur, die dann Illusionen schafft. Im Prozess der Konstruktion wirkt die Schrift, so hat Manfred das selbst formuliert, als Impulsgeber, Schubkraft, Treibstoff. Aber im Schöpfungsvorgang wird sie sozusagen verbraucht; der Sinn dessen, was geschrieben wird, tritt in den Hintergrund. „Was bleibt, ist Rhythmus und Raum“. 

Kommt die Schrift, als zeichnerischer Grundlage des Bildes, also auch die Aufgabe, der Sprache zu dienen, abhanden, so wird sie damit doch nicht zu einer gänzlich sinnfreien Aneinanderreihung von Ornamenten: von dots, Strichelchen, Häkchen oder dergleichen. Auch nicht ein Ensemble von strings, vergleichbar den Fädchen in einigen wenigen, immergleichen Varianten, aus denen die Physiker ihr Universum aufbauen. Auch der scribbler kritzelt ja nach wie vor Worte; Sinneinheiten. Und vielleicht enthält das, was da gekritzelt wird, ja doch eine Botschaft? Wenn auch eine fragmentarische, kryptische, halb zugeschmierte, subversive? Es bleibt also auch dort, wo die Schrift dabei ist, sich von der Sprache zu lösen, ein RestVerdacht auf Referenz - ich komme am Ende meiner Überlegungen auf diesen Punkt noch einmal zurück.

2. Zunächst jedoch, im zweiten Schritt, zu dem ästhetischen Universum, das Manfred Bock schreibend, kritzelnd, schreibend geschaffen hat. Diese Bilderwelt ist angesiedelt in der Übergangszone zwischen konkret-figürlich und abstrakt. „Abstrakt“ soll heißen: Die Punkte, Lini-en, Flächen und Körper, also die einzelnen Bauteile, die Konstruktionselemente, die sich zum Bild zusammenfinden, dienen nicht mehr zur Darstellung von etwas, sondern sie sind als Enti-täten an sich von Belang.

 

 

Kunstwerke in diesem Zwischenreich von konkret und abstrakt, wie eben Manfred Bocks Zeichnungen, referieren also vielleicht noch auf etwas, sie stellen noch ein reales Et-was dar – doch sie stehen bereits an dieser Schwelle, wo die reine Geometrie Eigenwert und Eigen-Sinn gewinnt. Mich hat in der Kunstgeschichte diese Übergangszone vom Konkreten zum Abstrakten immer fasziniert; ebenso das Abstrakt-Werden einzelner Künstler. Oder ihr Oszillieren zwischen den beiden Sphären: Die Vexierspiele, mit denen sie uns triezen. Auch bei Manfred Bock gibt es noch „realistische“ Bildunterschriften: Etwa „Atelier im Dezem-ber“, „Grube“, „Tore“. Doch wir finden auch die „Furchen und Faltungen“, die „Wellen“ und die „Wirbel“ – gemeint sind hier womöglich noch die Dinge unserer Alltagswelt, vielleicht aber auch schon die abstrakten geometrischen Gebilde. 

Wie sieht nun Manfred Bocks Geometrie aus? Sie kennt keine schweifenden Ornamente, keine schwingenden, keine bauchigen Linien. Es gibt nicht die fein ziselierte Zeichen-Welt der arabischen Kalligraphie. Nicht die verspielten Idyllen Paul Klees, die den Betrachter in ein friedliches Gleichgewicht wiegen. Ebenso wenig die rechteckige, klare, ruhige Welt Mondrians, auch nicht die kühlen, statischen Ingenieurs-Konstruktionen Moholy-Nagys oder Feiningers. Stattdessen: Immer ist die Schrift aufs Äußerste angespannt; sie jagt und hetzt, atemlos, sie durchläuft Trajektorien: Schussbahnen. Die Linien sind an sich gerade. Aber die-se Geraden laufen schräg durchs Bild, in die Diagonale gekippt, orientiert auf Fluchtpunkte außerhalb des Bilderrahmens, an der Peripherie. Die Geschwindigkeiten sind enorm, die Be-wegungen reißen den Betrachter mit, sie ziehen oder schleudern ihn über den Bildrand hinaus. Die Ebenen sind schief; immer sind wir in der Gefahr, abzugleiten. Wir stolpern in Fallgru-ben. Oder sind es Gräber? Abgründe, Schächte und Krater tun sich auf. Wir werden angesaugt oder ausgespuckt. Oder kreisen unentrinnbar in Strudeln - in Edgar Alan Poes Malstrom? Es gibt Türen. Aber sie führen ins Dunkle. Und die weißen Kreise in der Ferne sind nicht das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels, sondern Austritte – aber wohin? 

Sicher: Da sind auch die hellen, verspielten „Röhrichte“; oder die „Geflechte“, die an die eleganten Metallbänder von Delaunays Eiffelturm erinnern. Die Wogen bäumen sich mit der eleganten Anmut, die wir von Hokusai kennen. Diese Kollektion kennt also durchaus eine Mehrzahl von Tonarten. Aber im Grundton ist sie doch ein furios, ein virtuos gekritzelter Alp-traum. Dessen Dynamik hat wenig gemein mit der optimistischen, technikgläubigen Rasanz der Futuristen. Eher evozieren diese Blätter das düstere Reich Alfred Kubins. Vielleicht auch Piranesis carceri, auf halb-abstrakt. Und: „White Void“: Ist das nicht die grauenerregende weiße ungeheure Wasserwand, der Arthur Gordon Pym auf seiner letzten Reise entgegenrudert? 

3. Sie sehen: Längst bin ich von den geometrischen Strukturen wieder auf die Lebenswelt anschaulicher Bilder gekommen. Aber ich wollte ja auch, drittens und letztens, zu den artisti-schen Illusionen zurück, die der Zeichner erzeugt. Erlauben Sie mir an dieser Stelle noch eine letzte literarische Aus-Schweifung: Juan Luis Borges’ vielleicht berühmteste Erzählung han-delt von der Bibliothek von Babel. Diese erstreckt sich, aus hexagonalen Räumen zusammengesetzt, nach allen Seiten ins Unendliche. Die Bibliothek enthält sämtliche kombinatorisch möglichen Buchstabenkombinationen des Alphabets: Neben allen denkbaren sinnvollen Bü-chern also auch unendliche Massen von Unsinn oder Halb-Sinn oder Tausendstel-Sinn. In einem Regal finden sich Worte, oder vielleicht auch Satzfetzen mit Verstand – und dann wie-der, über tausende von Kilometern, Nonsens. An den Bücherregalen entlanggehend, läse der Leser-Besucher, hie und da, eine Botschaft – wohl eine fragmentarische, kryptische, subversi-ve: Von der Art wie sie – ich hatte es oben bemerkt - der scribbler kritzelt. Und hierzu passt dann eben auch, dass mich viele der düsteren, ins Weite weisenden Schreib-Räume an Bor-ges‘ Hexagone erinnern..